Der König der Kurvenfahrt

Im Zug mit 300 km/h in die Kurve? Ohne die Erfindung von José Louis López Gómez wäre das undenkbar. Sie sorgt dafür, dass moderne Superzüge ihre Passagiere immer schneller, sicherer und komfortabler ans Ziel bringen.

Gómez
von Nadine Querfurth

Sein Patent hat den Grundstein gelegt, dass Züge in Sachen Geschwindigkeit noch nicht am Limit sind. „400 bis 450 Stundenkilometer sind auf jeden Fall technisch möglich“, ist López Gómez überzeugt.

Berlin. José Luis López Gómez hat unzählige Stunden in Hochgeschwindigkeitszügen verbracht. Geschäftsreisen erledigt er - wenn möglich - immer im Zug. Durch eine von ihm optimierte Technik kann der Fahrgast auch auf kurvigen Strecken alles tun, während der Zug in einem Affenzahn die Bahnhöfe hinter sich lässt: schlafen, entspannen, den Gang entlang laufen oder Café trinken, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.

Der Spanier hat eine Technologie perfektioniert, die Zugräder in optimaler Position auf den Schienen hält. Diese und andere Entwicklungen des 71-jährigen haben dazu geführt, dass das Unternehmen Patentes Talgo heute zu einem der führenden Hersteller von Hochgeschwindigkeitszügen zählt. López Gómez arbeitete fast 40 Jahre dort und hat durch seinen Erfindergeist, den Spaß am Tüfteln und sein lösungsorientiertes Denken viele technische Herausforderungen gelöst.

Und zwar auf so raffinierte und unkonventionelle Weise, dass 20 seiner Erfindungen als Patente angemeldet sind. Eines darunter, nämlich eine neue Art der Zugradführung, hat ihm die Nominierung für den Europäischen Erfinderpreis 2013 in der Kategorie „Industrie“ eingebracht.

Räder sind die Schwachstellen moderner Superzüge

An Zügen tüftelt der junge López Gómez schon immer. Gerade 10 Jahre alt, baut er sich einen Zug aus Kisten und macht sich Gedanken über die Räder. Sein Vater, der Tischler war, fertigt sie ihm aus Holz. Der Junge ist stolz auf seinen Zug und nennt ihn mit seinen Freunden aus dem Dorf den Talgo-Zug. Bis heute ist er unversehrt und lagert in der ehemaligen Werkstatt seines Vaters.

López Gómez studiert am Instituto Católico de Artes e Industrias (ICAI) in Madrid Ingenieurswissenschaften und arbeitet als Maschinenschlosser bevor er 1967 bei Talgo anfängt. Dort steht er als Produktionstechniker in den Werkstätten und wartet Züge. Auch zu jener Zeit sind es die Räder, die ihn beschäftigen. Wie optimal sie sich an die Schienen anpassen entscheidet über ihren Verschleiß.

Gerade bei Hochgeschwindigkeitszügen werden die Räder immens beansprucht, nutzen sich deshalb schnell ab und bescheren dem Betreiber hohe Wartungskosten. Die will López Gómez senken und beginnt, sich Gedanken über den Kontakt zwischen Schienen und Rädern zu machen. Hier liegt nämlich der Schwachpunkt in Sachen Stabilität eines Hochgeschwindigkeitszuges.

An der Stelle, wo Räder und Schiene aufeinander treffen, wirken große Kräfte. Einerseits in vertikaler Richtung, denn das gesamte Gewicht des Zuges wird auf die Schiene übertragen. Andererseits quer zu den Schienen, denn durch Fliehkräfte in Kurven kommt es zu seitlichen Oszillationen. Für den Fahrgast ist das hör- und spürbar und mit deutlich weniger Reisekomfort verbunden. Der Zug quietscht und vibriert.

Dank der Entwicklungen von José Luis López Gómez zählt das Unternehmen Patentes Talgo heute zu den führenden Herstellern von Hochgeschwindigkeitszügen.
Dank der Entwicklungen von José Luis López Gómez zählt das Unternehmen Patentes Talgo heute zu den führenden Herstellern von Hochgeschwindigkeitszügen.

José Luis López Gómez optimiert diesen Rad-Schienen-Kontakt und meldet die von ihm entwickelte Technologie 2007 als Patent an. Ein Computer gestütztes System ermöglicht zu jedem Zeitpunkt auf gerader oder kurviger Strecke die genaue Geschwindigkeit eines Rades zu bestimmen, ebenso die exakte Position auf der Schiene. Weicht letztere vom Ideal in der Mitte ab, werden die Räder durch eine automatische Mechanik zurück in die optimale Stellung gebracht. Der Zug vibriert nicht und fährt sicher, ruhig und leise. Bis zu 30 Prozent schneller können Talgo-Züge deshalb auf kurvenreichen Strecken fahren.

Damit hat López Gómez Patent den Grundstein gelegt, dass Züge in Sachen Geschwindigkeit noch nicht am Limit sind. „400 bis 450 Stundenkilometer sind auf jeden Fall technisch möglich. Viele Trassen lassen aber solche hohen Geschwindigkeiten nicht zu“, sagt er. Bis heute hält ein Talgo-Zug den Geschwindigkeitsrekord. Gemessen wurde er 1990 auf dem Rollenprüfstand der Deutschen Bahn AG in München, der mittlerweile wegen mangelnder Auslastung geschlossen ist.

Ein Foto für den Chef des Prüfstands

Dort wurden die Laufzustände von Zügen getestet, indem Prüfrollen sich mit bis zu 1.900 Umdrehungen pro Minute unter Zugrädern hinwegdrehen. Der Talgo-Zug erreichte einen Geschwindigkeitsrekord von 500 Km/h. „Er lief bei dieser Spitzengeschwindigkeit noch sehr stabil“, erinnert sich López Gómez. „Der Chef des Prüfstandes bat mich damals um ein Foto, denn noch nie erreichte ein Zug auf diesem Prüfstand eine solche Geschwindigkeit.“

Dieses gute Testergebnis führte dazu, dass die Deutsche Bahn bei Talgo im Jahr 1992 eine erste Charge von fünf Zügen mit insgesamt über 100 Waggons bestellte. Sie verkehrten als Nachtzüge auf innerdeutschen Strecken.

In jedem ausgelieferten Talgo-Hochgeschwindigkeitszug stecken Patente von José Luis López Gómez, der alsbald technischer Leiter und wenig später technologischer Generaldirektor wurde. Besonders seine Methode zur optimalen Führung von Schienenfahrzeugen hat dem Unternehmen internationales Renommee eingebracht.

Die Flotte wuchs weltweit innerhalb von drei Jahren von 1.737 auf 2.517 an. Talgo-Züge operieren außerhalb Spaniens in Frankreich, der Schweiz, Italien, Portugal, Kanada, den USA und Kasachstan. Auch Polen, Russland, die Ukraine, Argentinien, Saudi-Arabien und Bosnien-Herzegowina haben Züge bestellt. Tendenz steigernd. Im Laufe der nächsten zwei Jahre wird die Zahl der Länder, in denen Hochgeschwindigkeitszüge verkehren, auf 24 steigen.

Der Spezialist für Hochgeschwindigkeitszüge hat einen ganz speziellen Traum: Einmal ganz langsam mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok reisen.
Der Spezialist für Hochgeschwindigkeitszüge hat einen ganz speziellen Traum: Einmal ganz langsam mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok reisen.

Bekannt sind Talgo-Züge für das besondere und unkonventionelle Design ihrer Räder. Sie sind nicht über eine starre Achse miteinander verbunden, sondern einzeln montiert und durch eine Luftfederung aufgehängt. Diese Konstruktion verändert auch den Schwerpunkt eines Waggons. Er liegt bei Talgo-Zügen weiter unten als gewöhnlich.

Fährt der Zug eine Kurve, neigt sich der Waggon um eine virtuelle Drehachse oberhalb des Daches. Die auftretende Fliehkraft lässt den Waggon nach außen pendeln ähnlich eines Kettenkarussells. Talgo nennt die Züge auch Pendular-Züge, deren Neigetechnik im Gegensatz zu anderen Herstellern passiv ist.

Madrid-Barcelona in weniger als zwei Stunden

Die neueste Errungenschaft aus dem Hause Talgo ist ein Hochgeschwindigkeitszug namens Avril. Noch ist der auf der InnoTrans 2012 vorgestellte Zug ein Prototyp. Er könnte, sofern die Strecke für die Höchstgeschwindigkeit des Zuges von 380 Km/h freigegeben wird, zwischen Madrid und Barcelona nur eine Stunde und 45 Minuten benötigen - im Vergleich zu zweieinhalb Stunden momentan und ganzen sieben Stunden vor dem Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse.

Ein weiteres sehr prestigeträchtiges Projekt für das Unternehmen befindet sich im Bau. Ein spanisches Konsortium, zu dem 11 weitere Firmen gehören, soll die 450 Kilometer lange Strecke von Medina nach Mekka für den Zugverkehr erschließen. Der Großauftrag umfasst neben der Lieferung von 35 Hochgeschwindigkeitszügen auch den Gleis- und Signalbau, den Bau von Bahnhöfen und Oberleitungen sowie die Wartung und Instandhaltung für 12 Jahre. 2016 soll der erste Zug nach Mekka rollen und dann täglich bis zu 160.000 Pilger transportieren.

Natürlich reist er immer im Zug

Seit seiner Pensionierung im Jahre 2004 ist José Luis López Gómez dem Unternehmen Talgo als Berater verbunden geblieben. Sein Kalender ist noch immer ausreichend mit Terminen gefüllt. Er habe kaum Zeit, stellt er selber fest. Sein Wissen und seine Freude am Optimieren möchte er weitergeben, deshalb lehrt an Universitäten und fährt zu Konferenzen. Natürlich reist er immer im Zug.

Auch zur Verleihung des Europäischen Erfinderpreises am 28. Mai 2013 in Amsterdam wird er im Hochgeschwindigkeitszug anreisen. Vielleicht findet er während dieser Fahrt einen Augenblick, um sich an seinen großen Wunschtraum zu erinnern und ihn endlich in die Tat umzusetzen: Nämlich eines Tages, wenn er mal Zeit hat, ganz langsam mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok zu reisen.

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