Zu schade für die Weinflasche

70 Prozent aller Weinflaschen weltweit werden mit Kork verschlossen. Doch das Naturmaterial kann noch viel mehr, wie die Erfindung der portugiesischen Forscher Helena Pereira und António Velez Marques beweist.

Helena Pereira und António Velez Marques
von Julia Groß

Gemeinsam mit zwei Kollegen haben Helena Pereira und António Velez Marques ein Verfahren entwickelt, das den Naturrohstoff Kork vielseitiger verfügbar macht.

Berlin. Es gibt kaum einen natürlichen Rohstoff, den Menschen so sehr mit Genuss und Kultur assoziieren wie Kork. Die Textur, der Geruch und natürlich das charakteristische Plopp-Geräusch, wenn der Stopfen aus der Flasche gezogen wird – nicht nur aufgrund der Materialeigenschaften, sondern auch wegen der damit verbundenen Sinneseindrücke wollen Winzer nur selten auf den Korken verzichten. Etwa 70 Prozent aller Weinflaschen weltweit werden auf diese Weise verschlossen.

Dabei ist Kork fast zu schade, um Bordeaux oder Chardonnay in ihren Gefäßen zu halten. Der Naturrohstoff ist vielseitig einsetzbar, er lässt sich zu bequemen Schuhsohlen, Allergiker-freundlichem Bodenbelag und Möbeln verarbeiten. Als hervorragendes Isolationsmaterial wird er nicht nur im Haus- und Anlagenbau häufig eingesetzt, er ist auch wichtiger Bestandteil der Hitzeschilder von Space Shuttles und Ariane-Raketen. Kork schwimmt, ist elastisch und relativ unempfindlich gegenüber Wasser und Feuer.

„Ein Grund dafür, dass das Verfahren noch nicht kommerziell angewendet wird ist, dass das dabei hergestellte Material so viele völlig neue Verwendungsmöglichkeiten eröffnet“, sagt António Velez Marques.
„Ein Grund dafür, dass das Verfahren noch nicht kommerziell angewendet wird ist, dass das dabei hergestellte Material so viele völlig neue Verwendungsmöglichkeiten eröffnet“, sagt António Velez Marques.

„Wir fangen gerade erst an, diese Materialeigenschaften für ganz neue Anwendungen zu nutzen“, sagt Helena Pereira. Als Professorin für Agronomie an der Technischen Universität von Lissabon beschäftigt sie sich seit rund 30 Jahren mit dem Naturmaterial. Eine Beschäftigung, die ihr jetzt gemeinsam mit drei Kollegen die Nominierung für den Europäischen Erfinderpreis 2013 eingebracht hat.

Bei der Umsetzung von innovativen Ideen stößt die korkverarbeitende Industrie regelmäßig an ihre Grenzen. Denn das Angebot des Naturprodukts ist begrenzt. Das Material entstammt der Rinde von Korkeichen, wo die Zellen zum Schutz des Stammes die Polymer-Moleküle Suberin und Lignin in ihre Zellwände einlagern. Bis die Rinde einer Korkeiche das erste Mal geerntet werden kann, vergehen 25 Jahre. Um die begehrte Hülle nach dem Abschälen nachwachsen zu lassen, benötigt ein Baum wieder etwa neun Jahre.

Der Rohstoff Kork ist also nicht unendlich verfügbar, die Produktion kann nur mit jahrzehntelangem Vorlauf gesteigert werden. Für die Überwindung dieses Problems haben Helena Pereira und ihre Kollaborationspartner António Velez Marques vom Polytechnischen Institut Lissabon, Rui Gonçalves dos Reis vom Europäischen EXPERTISSUES-Institut und Susana Pinto Silva vom Konzern Corticeira Amorim eine elegante Lösung gefunden: Das Volumen von Korkgranulat lässt sich durch eine wenige Minuten dauernde Bestrahlung in der Mikrowelle um 40 bis 85 Prozent vergrößern, nachdem es mit heißem Wasser oder Wasserdampf vorbehandelt wurde.

DBis die Rinde einer Korkeiche das erste Mal geerntet werden kann, vergehen 25 Jahre.
Bis die Rinde einer Korkeiche das erste Mal geerntet werden kann, vergehen 25 Jahre.

Mit dieser Methode können aus der gleichen Menge des natürlichen Rohstoffs deutlich mehr Produkte hergestellt werden. „Dabei behält das Material all seine Eigenschaften, lediglich die Dichte nimmt ab, das heißt, es wird noch leichter und atmungsaktiver“, sagt António Velez Marques. 

Das Verfahren klingt simpel, war jedoch keine zufällige Entdeckung. „Wir haben zunächst einige theoretische Überlegungen angestellt“, erklärt Helena Pereira.

Um das Volumen auszudehnen, muss der Druck innerhalb der wabenförmigen, luftgefüllten Zellen der Korkrinde erhöht werden, so dass die Zellwände sich schließlich nach außen beulen. „Der einfachste Weg, dies ohne Verwendung von Chemikalien zu erreichen, ist Erhitzen – doch bei einer gut isolierenden Substanz wie Kork ist es gar nicht so einfach, die Wärme auch ins Innere zu bringen. Mikrowellen tun jedoch genau das: Sie verdampfen das Wasser, das durch die Vorbehandlung in jede einzelne Zelle eingedrungen ist“, sagt Pereira.

Keine giftigen Rückstände

Damit ist die Methode einem Anfang der 90er Jahre entwickelten Verfahren, bei dem Kork mit Lösungsmitteln behandelt und in einer Druckkammer bedampft wurde, weit überlegen. Die von Pereira, Marques, dos Reis und Silva entdeckte Expansion in der Mikrowelle ist schneller, verbraucht weniger Energie und hinterlässt keine giftigen Lösungsmittelrückstände im Material.

Dazu kommt: Mikrowellenstrahlung wird bereits in der Produktion eingesetzt, um Kork zu sterilisieren. Die nötige Geräteinfrastruktur ist bei den Herstellern also bereits vorhanden.

Der weltgrößte Korkproduzent Corticeira Amorim hat sich das Verfahren 2011 patentieren lassen. Der Konzern aus der Nähe von Porto, der im vergangenen Jahr einen Umsatz von 534 Millionen Euro erzielte, kontrolliert ein Viertel des Flaschenkorken-Markts und kommt bei Kork-Fußbodenbelägen und Kork-Isolierungen auf Marktanteile von 65 beziehungsweise 80 Prozent.

Amorim investiert etwa fünf Millionen Euro pro Jahr in Innovation, rund 100 der über 3000 Mitarbeiter sind für Forschung und Entwicklung zuständig und arbeiten seit langem mit dem portugiesischen Wissenschaftlerteam zusammen

Rund 70 Prozent aller Weinflaschen weltweit werden mit Naturkork verschlossen.
Rund 70 Prozent aller Weinflaschen weltweit werden mit Naturkork verschlossen.

Produkte aus expandiertem Kork verkauft Amorim allerdings noch nicht. Bislang testet das Unternehmen die Expansionsmethode für verschiedene neue Anwendungen von Korkgranulat und arbeitet an der Übertragung vom Labor- auf Industriemaßstab.

„Ein Grund dafür, dass das Verfahren noch nicht kommerziell angewendet wird ist, dass das dabei hergestellte Material so viele völlig neue Verwendungsmöglichkeiten eröffnet“, sagt António Velez Marques. „Das bedeutet einerseits, dass man sehr genau prüfen und testen muss, um keine bösen Überraschungen zu erleben. Andererseits bedarf es auch der genauen Abwägung der ökonomischen Risiken, wenn man ganz neue Absatzmärkte erschließen will.“

Denkbar sei zum Beispiel der Einsatz von expandiertem Korkgranulat bei der Bekämpfung einer Ölpest, so Marquez: „Die Saugfähigkeit des Granulats ist enorm.“ Die Testreihen für eine entsprechende Nutzung will das Team in den kommenden Wochen abschließen.

Schutz vor Erosion

Die Bedeutung der Erfindung geht jedoch weit über eine potenzielle Gewinnsteigerung und die Erschließung neuer Märkte für den portugiesischen Amorim-Konzerns hinaus. In Portugal und Spanien, den beiden Hauptproduzenten, hängen über 100.000 Arbeitsplätze von der Korkindustrie ab – gerade in der aktuellen Wirtschaftslage ein wichtiger Faktor. Zudem schützen Korkeichenwälder das Land vor Erosion und bieten über 40 Vogelarten einen Lebensraum.

Während die Korkrinde nach dem Abschälen nachwächst, binden die Eichen drei bis fünf Mal so viel des Treibhausgases CO2 wie andere Bäume. Die Möglichkeit, mehr Material aus dem nicht unendlich verfügbaren natürlichen Rohstoff zu gewinnen, schützt somit einen traditionsreichen, nachhaltigen Industriezweig und eröffnet neue Zukunftsperspektiven.

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