Die Bibliothek für die Jackentasche

Dank E-Readern passt heute eine Bibliothek bequem in jede Jackentasche. Die Grundlagen für den E-Book-Boom legte Joseph Jacobson – auch wenn seine Vorstellung von elektronischem Papier ursprünglich ganz anders aussah.

Joseph Jacobson
von Hanno Charisius

Für Joseph Jacobson war die Entwicklung des elektronischen Buchs als Herausforderung „schwierig genug, um interessant zu sein“

Düsseldorf. Als Johannes Gutenberg vor 550 Jahren die Buchpresse erfand, hätte er die Arbeit von Joseph Jacobson wohl für Schwarze Magie gehalten. Papier, dass sich selbst druckt und die Informationen dafür quasi aus der Luft einfängt – zu Gutenbergs Zeiten landete man schon für weniger Sensationelles auf dem Scheiterhaufen.

Heute ermöglicht uns elektronisches Papier, auf Reisen nicht nur ein Buch im Gepäck zu haben, sondern gleich eine ganze Bibliothek. Weil es so wenig Energie verbraucht, kann man mit einer Batterieladung sogar einen guten Teil der digitalen Bücher im Speicherchip damit lesen. Sie löst das alte Geschäftsmodell der Verlage auf. Und sie schont die Wälder.

Bereits seit den 1970er Jahren spukte die Idee vom elektronischen Papier durch die Welt. Aber lange Zeit sah es nicht so aus, als würde daraus mehr werden als Prototypen und Verheißungen für Risikokapitalgeber. Das änderte sich zunächst auch nicht, als sich Joseph Jacobson 1993 der Sache annahm.

Nachdem er gerade an der kalifornischen Stanford Universität in Quantenphysik promoviert hatte, suchte er nach einer neuen Herausforderung und das elektronische Buch schien ihm als Projekt „schwierig genug, um interessant zu sein“, wie er im Jahr 2002 der Zeitschrift Wired anvertraute. Und schwierig genug, um ihn über ein Jahrzehnt lang zu beschäftigen. Das erste Produkt, ein Lesegerät mit elektronischem Papier anstelle eines konventionellen Displays kam erst 2006 auf den Markt.

Die elektronischen Bücher, die Jacobson ursprünglich im Sinn   hatte, sollten ganz anders aussehen als der Kindle und seine Artverwandten.
Die elektronischen Bücher, die Jacobson ursprünglich im Sinn hatte, sollten ganz anders aussehen als der Kindle und seine Artverwandten.

Jacobsons erste Idee sah vor, Farbstoffpartikel in haarfeinen Kanälen herum zu pumpen, um ein Schriftbild zu erzeugen. Doch angesichts der zu komplexen Steuerung besann er sich auf ältere Experimente aus den Laboren des Kopiererherstellers. Dort hatte man erfolglos mit schwarz und weiß gefärbten magnetischen Partikeln gearbeitet. Jacobson griff die Idee wieder auf und wandelte sie ab. Mikroskopische, mit dunkler Flüssigkeit und weißen Pigmenten gefüllte Kapseln, sollten in seiner Vorstellung die traditionelle Druckfarbe ersetzen.

Durch Anlegen einer kleinen elektrischen Spannung können diese Kugelpixel von der Größe eines Staubkorns zwischen dunkel und hell hin und her geschaltet werden. Elektrophorese wird dieser Vorgang genannt, bei dem sich geladenen Partikel angetrieben durch eine elektrische Spannung durch einen Flüssigkeit bewegen. Biologische Labors benutzen diesen Trick auch, um Moleküle voneinander zu trennen.

Nach der Entscheidung für  die schaltbaren Mikrokapseln stellte sich so aber gleich das zweite Problem: Wie kontrolliert man jedes einzelne Kugelpixel ohne einen riesigen Verhau aus Elektroden und Drähten? Was Jacobsen brauchte war ein durchsichtiges, leitfähiges Material.

1995 wechselte der Erfinder an die Ostküste der USA und trat seine Assistenzprofessur am Massachusetts Institute of Technology MIT in Cambridge bei Boston an. In seinem Labor arbeitete auch Barret Comiskey, ein Mathematikstudent, der nicht nur mit Formeln, sondern auch mit Molekülen spielen wollte und sofort von der Vision vom elektrischen Papier begeistert war. In nur zwei Jahren konstruierten sie einen ersten funktionierenden Prototyp aus farbstoffgefüllten Plastikkapseln und transparenten Elektrodenfolien aus mit Metall angereichertem Kunststoffpolymer. An dem grundlegenden Funktionsprinzip der elektronischen Tinte hat sich seither nichts verändert.

Ende Oktober 1996 beantragten sie die Schutzrechte für ihre Erfindung beim US-Patentamt. Ein Jahr später meldeten sie ihr Patent auch in Europa an und gründeten das Startup E Ink. 2009 wurde das Unternehmen vom Geschäftspartner Prime View aufgekauft, firmiert jedoch weiter unter dem alten Namen und ist heute der weltweit führende Hersteller von elektronischem Papier. Lesergeräte etwa vonAmazon oder Sony zeigen ihre digitalen Inhalte auf E-Ink-Displays an.

Die elektronischen Bücher, die Jacobson ursprünglich im Sinn hatte, sollten  jedoch ganz anders aussehen als der Kindle und seine Artverwandten. Er hatte vorgesehen, dass mehrere Bögen elektronischen Papiers zusammen geheftet das digitale Buch ergeben, das auf seinen Seiten wechselnde Inhalte anzeigen kann. Der Nutzer, so Jacobsons Idee, würde durch das Umblättern der Displayseiten einen besseren Überblick behalten, weil ihm das Konzept von gedruckten Büchern vertraut ist.

Tatsache ist, dass die heutigen Lesegeräte wie kleine Tablettcomputer mit nur einem E-Paper-Display arbeiten und man die Seiten per Tastendruck wechselt. Immer häufiger wird auch das Display selbst zur Umblättern-Taste, nachdem es den den E-Ink-Ingenieuren gelungen ist, dem elektronischen Papier auch noch Touch-Sensibillität zu verleihen.

Dank Joseph Jacobson wird die Geschichte des Buchhandels in Zukunft wohl mit elektronischer Tinte geschrieben.
Dank Joseph Jacobson wird die Geschichte des Buchhandels in Zukunft wohl mit elektronischer Tinte geschrieben.

Zwar haben konventionelle Displays dank mehr und kleinerer Pixel inzwischen qualitativ aufgeholt, doch sowohl bei Preis, Lesbarkeit und vor allem dem Energieverbrauch sind E-Paper-Displays bislang ungeschlagen. Bei den Produkten des Marktführers schwimmen heute schwarze und weiße Pigmente in einer transparenten Lösung. Die Größe der Mikrokapseln liegt um die 40 Mikrometer. Die weißen Pigmente sind positiv geladen, die schwarzen negativ. Liegt an den mikroskopischen Elektroden der Deckschicht eine negative Ladung an, schwimmen die weißen Partikel auf und die schwarzen sinken ab.

Dass nur dann Strom verbraucht wird, wenn sich die Spannung der Elektroden verändert, ist ein attraktiver Nebeneffekt der Technologie. Die Batterie wird also nur für den Seitenwechsel gebraucht, oder um neue Inhalte zu laden, nicht aber zum Anzeigen der Buchstaben selbst. Aus diesem Grund arbeiten heutige E-Paper-Geräte mit einer Akkuladung bis zu acht Wochen lang, während Tablet-Computer mit vergleichbar großem Display nach spätestens zehn Stunden wieder an die Steckdose müssen.

Jacobson sah aber nicht nur Literatur auf e-Papier erscheinen, sondern wollte auch die Anzeigen von Uhren, Telefonen, Anzeigetafeln und irgendwann auch von Computern erobern. Vertreter der drei ersten Kategorien betreten gerade den Markt. Bei Computern wird es vielleicht noch dauern, bis es elektronische Tinte nicht mehr nur in den Farben weiß und schwarz gibt.

Der Umbruch in der Verlagsindustrie, den Jacobsons und Comiskeys Erfindung gestartet hat, ist nicht mehr aufzuhalten. Im Jahr 2011 wurden weltweit nahezu 15 Millionen digitale Lesegeräte verkauft. In manchen Bereichen der Literatur werden bereits heute mehr digitale als gedruckte Kopien verkauft. Wie diese Entwicklung das Buchgewerbe weiter verändern wird, ist momentan noch nicht abzusehen. Fest steht aber, dass seine zukünftige Geschichte mit elektronischer Tinte geschrieben werden wird.

nach oben