Ein Linse aus Öl und Wasser

Als Erfinder ist Bruno Berge ebenso erfolgreich wie als Unternehmer. Seine Linsen-Technik findet sich heute in Smartphones und Tablets ebenso wie in Scannern von Supermarktkassen oder Geräten zur biometrischen Erfassung.

Berge
von Uta Deffke

Auf Flüssigkeiten und ihren Grenzflächen gründete sich Bruno Berges wissenschaftliche Karriere.

Berlin. Was für Meisterkoch Paul Bocuse ein Ärgernis, ist für Bruno Berge eine optische Wunderkammer: zwei Flüssigkeiten, die sich auf natürlichem Wege nicht vermischen. Während der Koch keine Mühen scheut, beide – in seinem Fall Essig und Öl – zu einer köstlichen Vinaigrette zu vereinen, nutzt der Physiker geschickt aus, dass Flüssigkeiten nahezu reibungslos aufeinander gleiten können. Und so macht Berge aus einem Tröpfchen Öl und einem Tröpfchen Wasser das Objektiv einer Kamera.

Wo bei einem herkömmlichen Kameraobjektiv eine oder mehrere Linsen mechanisch verschoben werden müssen, um Objekte scharf zu stellen, kommt man bei der flüssigen Linse ohne bewegliche Teile aus. Der Vorteil: Das Fokussieren geht viel schneller, verbraucht wesentlich weniger Energie und Platz, und das System – eingesperrt zwischen Glas- oder Kunststoffscheiben – ist robuster gegen Erschütterungen. Ideal also für den Einsatz in mobilen Geräten wie Smartphones oder Tablets.

Um seine Linsen à la Berge vom Labortisch auf den Markt zu bringen, gründete der französische Physiker 2002 das Unternehmen Varioptic mit Sitz in Lyon. Mittlerweile sind seine Produkte in Scannern von Supermarktkassen ebenso verbaut wie in industriellen Band-Fertigungsanlagen oder in Sicherheitstechnik wie biometrischen Scannern von Augen oder Fingerabdrücken.

„Ich war erstaunt, dass das Phänomen so wenig erforscht war“: Bruno Berge
„Ich war erstaunt, dass das Phänomen so wenig erforscht war“: Bruno Berge

Eine halbe Millionen Einheiten wurden in den vergangenen beiden Jahren jeweils verkauft. Berge hält 45 Patente, um seine Technologie zu schützen, die chemische Formel der Flüssigkeiten ist streng geheim. Der Erfolg seiner Technologie hat ihm jetzt eine Nominierung für den Europäischen Erfinderpreis 2013 eingetragen.

Interessante optische Eigenschaften

Seit vielen hundert Jahren werden optische Linsen hauptsächlich aus Glas gefertigt, in jüngster Zeit auch aus Kunststoffen. Ihre Oberfläche muss – je nach Qualitätsanspruch – durch aufwändige, weil sehr präzise Schleif- und Polierprozesse in die rechte Form gebracht werden.

Dass auch Flüssigkeiten aufgrund der Lichtbrechung an ihrer Oberfläche interessante optische Eigenschaften haben, lernt schon jedes Kind. Sie sind zum Beispiel für die Entstehung des Regenbogens verantwortlich und können als Tautropfen, der wie ein Vergrößerungsglas wirkt, Sonnenstrahlen so stark bündeln, dass diese trockenes Gras entzünden.

Auf Flüssigkeiten und ihren Grenzflächen gründete sich auch Bruno Berges wissenschaftliche Karriere. Nach einem Post-doc Aufenthalt in Chicago kehrte er 1991 an seinen Studienort Grenoble zurück, um am Centre National de Recherche Scientific (CNRS) zu forschen. Dabei ergänzten sich seine wissenschaftlichen Interessen und seine private Leidenschaft fürs Fotografieren hervorragend. „Schon in meiner Jugend liebte ich insbesondere kaputte Kameras, die ich auseinandernahm und mit denen ich einfach zum Vergnügen Experimente machte“, erzählt Berge.

Die entscheidenden Impulse für die Entwicklung der neuartigen Objektive fand der Forscher bei seinem Landsmann Gabriel Lippmann. Der war 1908 für die Erfindung der Farbfotografie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden und hatte Ende des 19. Jahrhunderts das Phänomen des Elektrowettings beschrieben.

Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Möglichkeit, durch Anlegen einer elektrischen Spannung gezielt einzustellen, wie ein Tropfen eine Oberfläche benetzt (engl. wetting). Ob er sehr flach ist und beinahe zerläuft oder nahezu abperlt und deshalb sehr rund ist, hängt von der Oberflächenspannung ab. Und diese kann – im Falle einer elektrisch leitenden Flüssigkeit auf einer leitenden Unterlage – durch Anlegen einer elektrischen Spannung beeinflusst werden.

„Ich war erstaunt, dass das Phänomen so wenig erforscht war“, sagt Berge. Es gab neben den Arbeiten von Lippmann nur wenige Veröffentlichungen dazu. Möglicherweise, so mutmaßt Berge heute, erlosch das Interesse daran, weil die Metalloberflächen, die man braucht, um die Spannung anzulegen, durch den Kontakt mit dem Wasser schnell korrodierten und der Effekt deshalb nur einige Male reproduzierbar war.

Berge hatte dieselben Erfahrungen gemacht und kam auf die Idee, seine Metalle mit einer dünnen Isolierschicht zu versehen. Dünn genug, um das Anlegen der Spannung zu ermöglichen, dick genug, um vor Rost zu schützen. „Das war der Schlüssel zum Erfolg“, so der Physiker. „Wir können das Millionen Mal ohne Qualitätsverlust wiederholen.“

Dennoch war Berge hinsichtlich optischer Anwendungen dieses Effektes zunächst wenig optimistisch. Seine Skepsis rührte daher, dass Flüssigkeitstropfen eigentlich, wenn man sehr genau hinschaut, alles andere als perfekt glatte Oberflächen besitzen. Keine gute Voraussetzung für Präzisionsoptik.

 

Niemand war bereit, das Risiko zu tragen

„Warum es dennoch so außerordentlich gut funktioniert, haben wir erst später verstanden“, gesteht der Physiker. Es liegt an der zweiten Flüssigkeit, dem Öl. Weil das so ein exzellenter Schmierstoff ist, können beide Oberflächen nahezu reibungsfrei aneinander entlanggleiten und so ihre von Natur aus energetisch bevorzugte, sehr regelmäßig gekrümmte Oberfläche ausbilden.

Von seinen Labor-Ergebnissen begeistert sah Bruno Berge sehr bald ein Produkt vor sich. Allerdings sollten noch beinahe zehn Jahre vergehen, bis das tatsächlich auf den Markt kam. Zunächst wandte er sich mit seiner revolutionären Linsen-Technologie an den Kamera-Giganten Canon. Doch der ließ ihn abblitzen. „Niemand war bereit, dieses Risiko zu tragen, das mit einer komplett neuen Technologie verbunden war. Und so wurde mir klar, dass ich das selber durchziehen musste.“

Zunächst galt es, die Technologie auszureifen. Besonderes Augenmerk lag dabei auf den Flüssigkeiten. Wichtig ist, dass beide sehr transparent sind, dieselbe Dichte aber unterschiedliche optische und elektrische Eigenschaften haben. Sie müssen über möglichst weite Temperaturbereiche stabil sein, dürfen also bei Kälte nicht einfrieren und bei Hitze nicht verdampfen.

Mittlerweile arbeiten die Linsen zwischen -20 und +60 Grad Celsius einwandfrei und können auch -40 und +85 Grad überstehen. Zwei bis drei Jahre dauerte es dann, die Produktionsanlagen zu planen, zu konstruieren und zu bauen. „Das gab es ja alles für diese neue Technologie nicht“, betont Berge.

Niemand war bereit, das Risiko einer komplett neuen Technologie zu tragen. Und so wurde mir klar, dass ich das selber durchziehen musste: Bruno Berge.
„Niemand war bereit, das Risiko einer komplett neuen Technologie zu tragen. Und so wurde mir klar, dass ich das selber durchziehen musste“: Bruno Berge.

Im ersten Jahr war Berge noch an der Uni angestellt und bekam Unterstützung vom Technologietransferzentrum France Innovation Scientifique et Transfert SA. Auch Innovationswettbewerbe brachten das Projekt Flüssiglinse nach vorne. „Als wir drei Leute waren, den ersten Prototypen hatten und den ersten Kunden, von da an kamen dann auch Investoren.“

Der erste Kunde war übrigens Bosch aus Deutschland, die einen Prototypen kauften. Möglicherweise für ein Spezialgerät zur Untersuchung von Autorädern, so ganz genau erinnert sich Berge nicht mehr. Dann kaufte Samsung Linsen für sein Entwicklungsprogramm für Mobilfunkgeräte. Im Prinzip sei das die perfekte Anwendung für seine schnellen, energiesparenden, robusten Linsen, sagt Berge. „Etliche Jahre haben wir auch mit viel Energie und Enthusiasmus versucht, in diesem Markt Fuß zu fassen.“

Nischenmärkte im Visier

Aber es hat nicht funktioniert. Vermutlich, weil dieser Massenmarkt kleinster Teile zu geringe Margen bringt. Deshalb hat man sich vor zwei Jahren weitgehend aus dem Mobilfunkbereich zurückgezogen. Lediglich Optilux, ein unabhängig agierender Ableger in den USA, kümmert sich auf Basis von Lizenzen noch darum.

Varioptic selbst – mittlerweile auf 30 Mitarbeiter angewachsen – hat seither vor allem Nischenmärkte der Industrie-Hightech und Medizintechnik im Visier, bei letzterem vor allem Endoskopie und Augenheilkunde. Schlüssel hierfür ist die Fortentwicklung der Linse, die mittlerweile mit vier und sogar acht Elektroden auf dem Ring ausgestattet ist. Das ermöglicht es, die Linse nicht nur zu wölben, sondern sie gezielt so zu verformen, dass sie Licht umlenken und Abbildungsfehler, die jede gewöhnliche Linse verursacht, ausgleichen kann.

Viele Freiheiten

Auch den Automarkt hat Bruno Berge wieder auf dem Schirm. Hier gehe der Trend zu immer mehr Kameras, die alle möglichen Überwachungsfunktionen haben. Berge will besonders damit punkten, dass seine Optik keine beweglichen Teile hat und deshalb sehr robust und energiesparend ist. Lediglich mit der Temperaturstabilität muss man es für diese Anwendung noch weiter treiben.

Diese neuen Ziele geht man als Teil der Parrot SA an, von der man 2011 gekauft wurde. Damals ging das Unternehmen aus der Mobilfunkbranche mit Spezialisierung im Automobilbereich auf Varioptic zu, man kannte sich bereits, denn Parrot war lange Jahre Mitglied der Strategieberatung von Varioptic. „Das ist eine gute Sache“, zeigt sich Berge zufrieden über diesen Schritt. „Parrot ist eine sehr innovative Firma, die uns viele Freiheiten lässt, was unsere weitere Entwicklung angeht.“

Sogar den eigenen Namen durfte Varioptic behalten, um die Kunden nicht zu irritieren. „Für unsere Kunden ist es wesentlich komfortabler, dass sie es nun mit einem größeren, stabileren Partner zu tun haben.“

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