Kleine Kugeln, große Sache

Die Zellgifte einer Chemotherapie können Krebszellen töten, doch auch gesunde Zellen leiden massiv unter der Behandlung. Patrick Couvreur hat Wege gefunden, Arzneien ohne Kollateralschaden ans Ziel zu bringen.

Couvreur
von Sascha Karberg

Patrick Couvreur hat Wege gefunden, schwelende Krankheitsherde mithilfe von Nanopartikeln gezielt zu löschen.

Berlin. Eine Kerze mit dem Strahl eines Feuerwehrschlauchs löschen zu wollen – dass dabei viel daneben gehen dürfte, leuchtet jedem sofort ein. Doch genau so wirken viele Medikamente, weil Ärzte keine andere Wahl haben: Um ein Krebsgeschwür in der Brust, im Hirn oder in der Leber mit einer ausreichenden Menge wirksamer Zellgifte zu erreichen, müssen sie den Körper des Patienten mit einem Schwall chemotherapeutischer Arzneien überfluten – mit oft erheblichen Nebenwirkungen in den gesunden Zellen.

Um Medikamente präziser und nebenwirkungsärmer zum Ziel zu transportieren, entwickelt Patrick Couvreur seit Ende der 1970er Jahre sogenannte Nanopartikel – gewissermaßen der feine Strahl, der schwelende Krankheitsherde gezielter löscht, ohne dass umliegendes gesundes Gewebe in Mitleidenschaft gezogen wird. Was immer der kreative Pharmazeut der Université Paris-Sud in Chatenay-Malabry an Krebsmedikamenten in seinen Millionstel Millimeter kleinen Kapseln verpackt, reduziert nicht nur Nebenwirkungen, sondern verbessert auch die Effektivität der Chemotherapie. Dafür ist Couvreur jetzt für den Europäischen Erfinderpreis 2013 in der Kategorie „Forschung“ nominiert worden.

Dabei war Couvreur zunächst  nur ein „durchschnittlicher“ Gymnasiast. „Ich war mehr an Sport als am Lernen von Latein und Griechisch interessiert“, sagt der gebürtige Belgier. Doch als er sich mit 17 Jahren an der Katholischen Universität in Louvain einschreibt, beginnen ihn Physik, Chemie und Biologie schnell zu faszinieren. Er entwickelt einen Enthusiasmus für die Naturwissenschaften, der bis heute ungebrochen ist.

„Zauberkugeln“ wandern durch die Zellmembran

Auf die Idee, Arzneien in Nanokapseln zu verpacken, kommt er, während er 1975 an seiner Doktorarbeit über das Verpacken von Medikamenten in Tabletten arbeitete. Kollegen des benachbarten Instituts für Zell- und Molekularpathologie scherzten herum, dass Couvreur seine Tabletten doch einfach so klein machen solle, dass sie durch die Zellmembran in die Zelle wandern könnten.

„Keine schlechte Idee“, denkt sich Couvreur. Schon der deutsche Nobelpreisträger Paul Ehrlich, der geistige Vater der Chemotherapie, hatte Anfang des 20. Jahrhunderts von solchen „Zauberkugeln“ geträumt, mit denen Krebszellen beseitigt, aber gesundes Gewebe verschont bleiben könnten.

Fest entschlossen wechselt Couvreur 1977 in das Labor des Nanotechnologie-Pioniers Peter Paul Speiser an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich, um dort Materialien für die ersten Nanokapseln zu testen, die ihre Arzneifracht durch die Membran von Zellen transportieren und im Zellinneren abliefern können. Aus tausenden möglicher Substanzen und unzähligen Tests hatte Couvreur binnen zwei Jahren so genanntes Cyanoacrylat – ein Klebstoff, der auch bei Operationen eingesetzt wird – als ein verträgliches und biologisch abbaubares Material für die Nanopartikel entdeckt.

Besonders nützlich haben sich Couvreurs Partikel für die Behandlung von Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Besonders nützlich haben sich Couvreurs Partikel für die Behandlung von Bauchspeicheldrüsenkrebs.

In jahrelangen Versuchsreihen untersucht Couvreur, welchen Effekt das Verpacken der Wirkstoffe hat: Normale Medikamente werden im Blut und anderen Körperflüssigkeiten verdünnt, vom Immunsystem angegriffen, abgebaut oder bleiben in anderen als den kranken Geweben hängen. Nanokapseln wandern jedoch für längere Zeit von der Körperabwehr unerkannt und weitgehend unversehrt durch den Körper. Sie können sogar die Bluthirnschranke überwinden, eine massive Hürde für die meisten Medikamente. Erst wenn die Kapsel nach einiger Zeit in den Zellen abgebaut wird, kommt die medikamentöse Fracht nach und nach frei und kann wirken.

Unterschiedliche Disziplinen zusammenführen

Doch Couvreur verlässt sich nicht darauf, dass Pharmafirmen seine Technik aufgreifen, sondern gründet 1997 in Paris die Biotech-Firma BioAlliance. Zum einen, um die Massenproduktion der Nanokapseln zu entwickeln und zu testen. Zum anderen, um in klinischen Studien die Sicherheit und verbesserte Wirksamkeit von Medikamenten zu testen, die in den neuen Nanokapseln verpackt und verabreicht werden. Für diese teuren Tests braucht die Firma zahlungskräftige Pharmafirmen als Partner, die sich wiederum nur mit Firmen einlassen, die auch die entscheidenden Patente für ihre Technologie besitzen.

„Pharmafirmen achten sehr auf die Patentsituation, bevor sie in eine Entwicklung oder Produktion investieren“, sagt Couvreur, der die Europäischen Patente für seine Nano-Techniken in die Firma eingebracht hat. Fast 21 Millionen Euro hat BioAlliance seit 1997 von Investoren eingeworben.

2005 erhält die Firma die Zulassung für das erste Krebsedikament, das mit Hilfe von Couvreurs Nanokapseln verpackt ist – Doxyrubicin gegen Leberkrebs. „Ich war aufgeregt und wirklich stolz“, beschreibt Couvreur diesen Moment des Erfolgs. Das sei nur möglich gewesen, weil „Innovation immer dort leichter und machtvoller ist, wo unterschiedliche Disziplinen zusammenkommen.“

Und es scheint ihm eine besondere intellektuelle Inspiration zu sein, sich mit Chemie, Materialwissenschaften, Physikalische Chemie, Pharmakologie und Zell- und Molekularbiologie beschäftigen zu müssen, um diesen Fortschritt in der Medikamentenentwicklung möglich zu machen. Als größte Hürde, seine Nanokapseln Patienten zugutekommen zu lassen, nennt Couvreur allerdings keine wissenschaftlichen oder technischen oder Hemmnisse, sondern „Geld“, denn für die Tests und Entwicklungen seien nun mal erhebliche Investitionen nötig.

Den Aids-Erreger im Visier

Besonders nützlich haben sich Couvreurs Partikel für die Behandlung von Bauchspeicheldrüsenkrebs erwiesen, an dem in Europa jährlich etwa 65.000 Menschen sterben und der nach Schätzungen für das Jahr 2015 weltweit 1,5 Milliarden Dollar Behandlungskosten verursachen wird.

Doch Couvreurs Kapseln wirken nicht allein gegen Krebs, auch gegen Infektionskrankheiten sind sie einsetzbar – darunter auch Aids. Die vom HI-Virus ausgelöste Immunschwäche ist zwar bereits mit einem Cocktail von Medikamenten kontrollierbar, jedoch sind auch hier die Nebenwirkungen erheblich, weil zu viele gesunde Zellen in Mitleidenschaft gezogen werden. „Unseren ersten Tests nach erscheint es sehr vielversprechend, dass unsere Nanokapseln auch die Effektivität der Medikamente gegen HIV verbessern können“, sagt der Forscher.

Woran Patrick Couvreur aktuell tüftelt, will er lieber noch nicht verraten. „Nur so viel: Es ist eine völlig neue Idee!“ 
Woran Patrick Couvreur aktuell tüftelt, will er lieber noch nicht verraten. „Nur so viel: Es ist eine völlig neue Idee!“ 

Während sich die erste und zweite Generation von Nanokapseln, deren wissenschaftliche Grundlage Couvreur in den 70er bis 90er Jahren schuf, in der Praxis schon bewähren, bastelt der Forscher mit seiner zweiten Biotech-Firma, Medsqual, bereits an der dritten Generation. Dabei wird das Krebsmedikament Gemcitabin mit einem so genannten Squalen – eine sehr kompakte fettartige Verbindung – verpackt. Die ersten Tests an Menschen lassen auf eine zehnfache Steigerung der Wirksamkeit des Medikaments schließen – wodurch die verabreichte Dosis und somit auch die Nebenwirkungen des Zellgiftes reduziert werden können.

Die neue Gemcitabin-Variante wurde 2011 patentiert. Und ist schon jetzt in der letzten, entscheidenden Testphase vor einer Zulassung, mit der 2015 oder 2016 zu rechnen ist. Die technischen Grundlagen dafür stammen von Studenten der Graduiertenschule „Therapeutics Innovation“, die Couvreur an der Université Paris-Sud gründete – ein „Brückenschlag zwischen Studenten und der Industrie“, so der Forscher.

Eine völlig neue Idee

Nach Monaten erfolgloser Versuche, das Gemcitabin in verschiedenen Nanopartikeln zu verpacken, versuchten es die Wissenschaftler mit Squalen. Das sei sofort ein Erfolg gewesen, da der Gemcitabin-Squalen-Mix sich im Wasser sofort zu kleinen Nanokügelchen arrangierte. Um die Eigenschaften von Squalen und die Anwendungsmöglichkeiten besser untersuchen zu können, hat Couvreur mittlerweile eine Squalen-Nanomedizin-Plattform im Pariser Biotech-Hub der medizinischen Fakultät Cochin gegründet.

Inzwischen experimentieren Forscher weltweit mit Nanoverpackungen, die gezielt Ziele wie Tumore ansteuern, aber gesunde Gewebe ignorieren. Dafür werden entweder die Wirkstoffe selbst oder die Nanokapseln mit Antikörpern oder anderen „Scout“-Molekülen verbunden, die den Substanzen den Weg weisen. Wieder andere Forscher wollen die Partikel sogar fernsteuern, indem sie magnetische Nanomaterialien verwenden, die dann mit Hilfe von Magnetfeldern wie in der Magnetresonanztomographie zum Ort des Krankheitsgeschehens im Körper des Patienten gelotst werden.

Woran Patrick Couvreur jedoch gerade tüftelt, will er lieber noch nicht verraten. „Nur so viel: Es ist eine völlig neue Idee!“ 

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