Zugreifen mit der Ikea-Hand

Für das Magazin „Time“ steht David Gows Erfindung auf eine Stufe mit dem Marsrover Curiosity oder dem Mega-Teilchenbeschleuniger LHC in Genf. Tatsächlich hat Gows Kunsthand i-Limb das Leben tausender Menschen verändert.

Gows
von Susanne Donner

„Ich war besessen von der Idee eines Baukastensystems, einer Art Ikea-Hand“. David Gow.

Düsseldorf.

David Gow entspricht keinem klassischen Erfinderklischee. Als Junge spielt er lieber Fußball statt im Kinderzimmer Modellflugzeuge zu basteln. Später studiert er an der Universität im schottischen Edinburgh zwar Ingenieurswissenschaften, aber auch da reizt es ihn mehr, die Inhalte zu begreifen als an der Werkbank zu stehen. Als er 1984 einen Bürojob im staatlichen Gesundheitswesen in Schottland, dem National Health Service, annimmt, hätte seine Karriere endgültig in unscheinbaren Bahnen verlaufen können. Denn kaum jemand aus dem öffentlichen Gesundheitswesen hat je etwas erfunden.

Aber es kommt anders. Eine Fernsehsendung der Serie „Tomorrow‘s World“ der BBC verändert Gows Leben. Er sieht Kinder, die ohne Hände geboren werden. Sie können weder einen Schnuller noch einen Beißring greifen. Nie werden sie einem Menschen die Hand schütteln. Denn die Prothesen seinerzeit sind zu klobig für die zarten Kinderhände. Sie eignen sich allenfalls ab einem Alter von neun Jahren.

Doch damit die Betroffenen jemals eine Tastatur bedienen oder eine Tasse heben können, müssten sie möglichst schon in jungen Jahren mit einem künstlichen Ersatz versorgt werden. Schwedische Forscher arbeiten daran, wie in dem Film gezeigt wird. „Ich war fasziniert“, erinnert sich Gow. „Ich begriff, wie wichtig Hände für Kinder sind, damit sie Dinge berühren und spielen können.“ Für den Ingenieur ist von diesem Moment an klar: „Ich wollte eine künstliche Hand für Kinder, aber auch für Erwachsene entwickeln. Sie sollte so klein wie möglich sein.“

Die bisherigen Handprothesen sind alles andere als feingliedrig. Nicht einmal die einzelnen Finger können bewegt werden. Gow möchte aber eine bionische Hand konstruieren, die der natürlichen möglichst in nichts nachsteht. „Ich war besessen von der Idee eines Baukastensystems, einer Art Ikea-Hand, die klein oder groß sein kann, an den linken oder rechten Arm passt“, entsinnt er sich.

Doch seine erste Kunsthand braucht zu viel Energie. Der zentrale Motor, der die fünf Fingergelenke bewegt, erschöpft die Batterie in kurzer Zeit. Gow entschließt sich, die Aufgabe auf ein einfacheres Problem herunter zu brechen. 1989 beginnt er damit, einen künstlichen Daumen für ein fünf Jahre altes Kind zu bauen. Der Finger wird nur einen Zentimeter dick und fünf Zentimeter lang. „Das war der Durchbruch. Denn wenn man einen Finger hat, kann man die ganze Hand bauen. Und man kann tausende Hände in verschiedenen Größen produzieren“, sagt Gow.

Mehr als 4000 Versehrte tragen mittlerweile die Kunsthand.
Mehr als 4000 Versehrte tragen mittlerweile die Kunsthand.

Statt eines zentralen Motors verwendet der Schotte für jeden Finger eine eigene Steuerung, die jedes Gelenk einzeln bewegt. Gow setzt modernste miniaturisierte Bauteile und ein innovatives Antriebssystem ein, das kraftvolle und schnelle Handgriffe ermöglicht. Zwei Elektroden am Armstumpf leiten die elektrischen Signale der Muskeln ab. Sie werden über einen kleinen Minicomputer verarbeitet. Dieser steuert die Bewegungen der Glieder.

Jeder kann mit dieser Prothese lernen mit Willenskraft verschiedene Handgriffe auszuführen: Mit dem Zeigefinger auf etwas zeigen, eine Kreditkarte greifen, die Schnürsenkel binden oder einen Text abtippen. Gow erläutert das Funktionsprinzip am Greifen einer Flasche: „Die Finger schließen solange, bis sie auf Glas treffen. Ein Sensor in jedem Finger detektiert den Widerstand und verhindert, dass die Hand sich weiter schließt.“

Der Erfinder der bionischen Hand

Eine der entscheidenden Anregungen für die bionische Kunsthand kommt jedoch aus der Automobilindustrie. Porsche verwendet in seinen Fahrzeugen einen Kunststoff von DuPont, ein Polyamid. Das Material ist robust und widerstandsfähig und lässt sich auch hautfarben herstellen. Aus der bis dahin mechanisch skelettartig anmutenden Prothese wird eine täuschend echte Kunsthand – mit Falten an den Fingergelenken und Fingerabdrücken.

Plötzlich interessieren sich die Medien für die futuristische Prothese

20 Jahre lang forscht Gow zwei Tage die Woche zusätzlich zu seiner festen Stelle im National Health Service. Er arbeitet hart. „Meine Frau ist sehr geduldig“, erklärt er und fügt hinzu: „Und ich habe keine Kinder, sonst wäre es nicht möglich gewesen.“

An einem Samstag sitzt er alleine im Labor. Die Sonne scheint zum Fenster hinein. Er spielt mit den beweglichen Fingern der Hand, die er am Tag zuvor zusammengebaut hat, und sinniert, darüber was der Rest der Welt wohl gerade macht. In diesem Augenblick wird ihm schlagartig klar, dass er etwas Großartiges in Händen hält. Der Geniestreich seines Lebens.

2003 gründet er das Unternehmen Touch EMAS, die heutige Touch Bionics. 2007 kommt die bionische Hand i-Limb für 10.000 britische Pfund auf den Markt. Der erste Handträger Campell Aird ist ein amputierter Hotelier aus dem schottischen Provinznest Moffat. Nach Jahren der Versehrtheit hält er freudestrahlend plötzlich wieder Türen auf.

Die Nachrichtensender BBC und ABC werden auf Gow aufmerksam. Und auch andere Medien interessieren sich für die futuristische Prothese. 2008 kürt das Time Magazin diese zu einer der 50 wichtigsten Innovationen und hebt sie damit auf eine Stufe mit dem Marsfahrzeug Curiosity und dem milliardenschweren Teilchenbeschleuniger LHC am schweizerischen Forschungszentrum CERN.

David Gows Traum wäre eine künstliche Hand für Kleinkinder.
David Gows Traum wäre eine künstliche Hand für Kleinkinder.

Mehr als 4000 Versehrte vorwiegend aus dem Irak- und dem Afghanistankrieg tragen mittlerweile die Kunsthand. Im vergangenen Jahr meldete Touch Bionics einen Umsatz von 16 Millionen britischen Pfund, umgerechnet 18,7 Millionen Euro. Prothesenhersteller und Konkurrent RLSSteeper hat im November 2012 ebenfalls ein Modell mit beweglichen Fingern auf den Markt gebracht. Und auch das deutsche Unternehmen Otto Bock versucht mit der Prothese Michelangelo, an den Erfolg aus Schottland anzuknüpfen. Diese beherrscht sieben Handpositionen.

Touch Bionics möchte sich die Vormachtstellung allerdings nicht nehmen lassen. Mittlerweile kann der Daumen der Prothese eigenständig ein- und auswärts gedreht werden. Damit sind auch komplizierte Griffe, wie das Öffnen einer Kühlschranktür möglich.

Zugleich kann das künstliche Pendant kräftiger zupacken und schwerer heben als jede menschliche Hand und ermüdet dabei nicht einmal. „In diesem Sinn ist der Ersatz besser als das echte Körperteil“, so Gow. Seit April 2013 können Prothesenträger ihre Hand sogar mit einer speziellen App programmieren und unter 24 verschiedenen Handgriffen auswählen.

Über 70 Millionen Zuschauer konnten die Fingerfertigkeiten von Gows Erfindung im neuesten Videoclip „Scream & Shout“ von Will.i.am und Britney Spears bestaunen. Gow hat dieses Video nur einmal gesehen und fand es befremdlich, das eigene Produkt so inszeniert zu sehen. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass das da auf dem Bildschirm seinem Kopf entsprungen ist.

„Ich bin schon stolz darauf. Aber man muss alles im Leben im richtigen Augenblick loslassen wie die eigenen Kinder“, findet er. 2009, lange vor dem eigentlichen Verkaufserfolg verlässt er das Unternehmen Touch Bionics. „Vermarkten können andere besser als ich“, urteilt er. Seither managt der 56-Jährige eine Abteilung im schottischen National Health Service.

Und doch hat ihn die Hand noch nicht ganz losgelassen. Kinder können zwar damit schon versorgt werden. Aber für Kleinkinder ist sie noch zu groß. Er gesteht: „Das ist mein Traum geblieben.“

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