Zuschmettern unerwünscht

Mit dem „Blumotion“-System hat Claus Hämmerle dafür gesorgt, dass es in der Welt ein wenig leiser zugeht. Das hat ihm und seinem Kollegen Klaus Brüstle die Nominierung für den Europäischen Erfinderpreis 2013 eingebracht.

Hämmerle
von Julia Harlfinger

Ließ sich für seine Entwicklung von der Automobilindustrie inspirieren: Erfinder Claus Hämmerle.

Düsseldorf.Heiß, verrußt, übel riechend und laut: Jahrhunderte lang waren Küchen nur mäßig attraktive Orte. Wer es sich leisten konnte, verbannte die Lebensmittelzubereitungs- und -aufbewahrungsstätten aus seinem Blickfeld und ließ Dienstboten die mitunter gefährlichen Tätigkeiten darin verrichten.

Erst ab dem 19. Jahrhundert begann der Wandel der Küche zu einem wohnlichen Raum mit detaillierter Gestaltung. Nicht nur neue Geräte und Materialien hielten Einzug. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse über Hygiene oder die Rationalisierung von Arbeitsschritten wurden umgesetzt.

Ein Meilenstein in dieser Entwicklung war die „Frankfurter Küche“ – die Mutter aller Einbauküchen. Das Kochlabor, entworfen im Jahr 1926 von der Wiener Architektin Marianne Schütte-Lihotzky, war selbst für kleine Stadtwohnungen kompakt genug. Normierte Möbelelemente, zum Beispiel Hängeschränke, ersetzten im Laufe der kommenden Jahrzehnte allmählich das Küchenbüffet und die damit verbundenen Umständlichkeiten.

Auch heute finden sich in den meisten Haushalten Einbauküchen; ihre Module sind durch Farbgebung, Materialien oder Beleuchtung individualisierbar. Küchen gehören zu den meistgenutzten Bereichen einer Wohnung – hier wird der wieder entdeckten Lust am Kochen gefrönt und in hochwertige ästhetisch-funktionale Ausstattung investiert.

Dafür, dass Partygeplauder, Steakbrutzeln oder kontemplatives Weinschlürfen nicht in einer Geräuschkulisse aus zuknallenden Schubladen und Schranktüren untergehen, sorgt eine Erfindung der Firma Julius Blum. Der Beschläge-Hersteller aus dem westösterreichischen Vorarlberg konstruierte im Jahr 2001 ein Dämpfungssystem namens „Blumotion“ für Möbelscharniere. Blumotion lässt das Schließen von Schränken in Küche sanft und vor allem leise ablaufen. Zuschmettern unmöglich!

„Bei der Entwicklung haben wir Anleihe an der Automobilindustrie genommen“, sagt Claus Hämmerle. Gemeinsam mit seinem Kollegen Klaus Brüstle hat er Blumotion entwickelt, was beider jetzt die Nominierung für den Europäischen Erfinderpreis 2013 eingebracht hat. Tatsächlich erinnert der Aufbau der 2005 patentierten aufsteckbaren Scharnier-Dämpfer an die Radaufhängung in Fahrzeugen, deren Aufgabe es ist, Unebenheiten der Straße abzufedern.

Die Erfinder des
Die Erfinder des "Stoßdämpfers für die Küche": Klaus Brüstle (l.) und Claus Hämmerle

Auch im Inneren der Blumotion-Scharniere sitzt ein zylinderförmiger Stoßdämpfer. Dieser bleibt entspannt, solange die Schranktür offen steht. Doch beim Schließen beginnt der Stoßdämpfer auf einen Kolben zu drücken – dieser wiederum schiebt sich durch einen flüssigkeitsgefüllten Thermoplastik-Schlauch.

Umgeben von zäher Hydraulikflüssigkeit, etwa Silikonöl, kann sich der Kolben seinen Weg nur langsam bahnen. So wird die überschüssige Energie beim Türenschließen abgefangen. Besonders praktisch: Je heftiger eine Tür zugedroschen wird, desto stärker die geschwindigkeitsabhängige Bremswirkung.

Bereits unmittelbar nach der Markteinführung im Jahr 2005 verkauften sich die neuartigen Scharnier-Dämpfer äußerst gut. Darüber war man sogar im 1952 gegründeten Familienunternehmen Julius Blum, das in seinen Anfangsjahren noch Stollen für Pferdehufe und rustikale Türschnallen hergestellt hatte, ein wenig überrascht. Die Beschläge aus Metall (Stahl, Zink) und hochwertigem Kunststoff funktionierten von Anfang an ohne Kinderkrankheiten. Dies überzeugte unterschiedliche Abnehmergruppen wie Küchenhersteller, Möbelmonteure, Beschläge-Fachhändler, Tischler und Endkunden. Auch die Jury des „Red Dot Design Award“ hielt das Produkt für preiswürdig.

Die Pioniere des sanften Schließens

Mittlerweile werden in mehr als 50 Prozent aller Küchen derartige Dämpfungssysteme eingebaut – nicht alle stammen von Blum. Doch das siebtgrößte österreichische Familienunternehmen setzt sich von Mitbewerbern nebst eindrucksvollem Patent-Portfolio durch technologische Überlegenheit ab. Das Gros der Beschläge lässt Blum in seinen sieben Vorarlberger Werken produzieren (Auslandsumsatzanteil: 96 Prozent).

Jedes Jahr 40 bis 50 neue Patente

„Bauteile für die Küche müssen besonders langlebig sein. Bevor ein Produkt unser Haus verlässt, wird es auf Herz und Nieren geprüft“, sagt Konstrukteur und Erfinder Hämmerle über die hohen Qualitätsansprüche seines Arbeitgebers. „Bestimmte Lamellen im Dämpfungssystem werden bei uns auf den Hundertstelmillimeter genau gefertigt“, ergänzt Gerhard Blum.

Er ist einer der beiden Geschäftsführer der Julius Blum GmbH, die seit 2001 ihren Jahresumsatz um hundert Prozent auf 1,26 Milliarden Euro steigern konnte. Blum ist mit 4350 Angestellten (davon 242 Lehrlinge) der größte Arbeitgeber Vorarlbergs. 1350 weitere Beschäftigte sind in den 27 internationalen Niederlassungen tätig, 2012 eröffnete übrigens eine Repräsentanz in Griechenland.

An die tausend internationale Schutzrechte hält Blum, jedes Jahr kommen 40 bis 50 Neuanmeldungen dazu. Allein 2011 wurden 40 neue Patente erteilt. Das Unternehmen steht somit an zweiter Stelle im Erfindungsranking des Österreichischen Patentamtes.

In der Urversion waren die Dämpfer noch per Clip auf die Scharniere aufgesteckt. Mittlerweile ist das millionenfach verkaufte System direkt in die Beschläge integriert.
In der Urversion waren die Dämpfer noch per Clip auf die Scharniere aufgesteckt. Mittlerweile ist das millionenfach verkaufte System direkt in die Beschläge integriert.

Auch zum ursprünglichen Blumotion-Patent haben sich rund zehn Weiterentwicklungen gesellt. In der Urversion waren die Dämpfer noch per Clip auf die Scharniere aufgesteckt. Mittlerweile ist das millionenfach verkaufte System direkt in die Beschläge integriert und in etlichen Versionen erhältlich, beispielsweise für besonders schwere Türen oder zur Befestigung per Schraube und Dübel.

Die Innovationskraft sei neben der internationalen Markterschließung der wichtigste strategische Pfeiler und somit ausschlaggebend für den Unternehmenserfolg, so Gerhard Blum. Und der Erfindergeist darf auch etwas kosten. Vier Prozent vom Jahresumsatze fließen in die Abteilung für Forschung und Entwicklung, die mit hundert Mitarbeitern besetzt ist.

Der größte Arbeitsplatz der Welt ist die Küche

Damit diese nicht „betriebsblind werden“, so Blum, gibt es etliche Kooperationen mit externen Beratern sowie Forschungseinrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für die Evolution neuer Produkte liefert die Bedürfnisforschung konkreten Input. Ebenfalls ein wichtiger Ideengeber: das direkte Feedback von Kunden – die tummeln sich schließlich täglich auf dem laut Gerhard Blum „größten Arbeitsplatz der Welt, der Küche“.

Bei der Entwicklungsarbeit wird auf das sogenannte simultane Engineering gesetzt. Noch während ein interdisziplinäres Forscherteam an zuweilen exotischen Prototypen bastelt, finden regelmäßig Rückkopplungsrunden mit Experten aus allen Unternehmensbereichen statt – dazu zählen Montage, Fertigung, Marketing und Betriebswirtschaft.

Auch Testkunden werden frühzeitig auf die Entwürfe losgelassen und dürfen sich beispielsweise im Zuschlagen von Türen, Klappen und Auszügen probieren. Haben Blums Dämpfungssystem-Entwickler ganze Arbeit geleistet, fallen die Tests – zumindest für aggressive Zeitgenossen – frustrierend milde aus.

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