ReportagePiratenjagd am Horn von Afrika

Mehr als 20 Schiffe und über 500 Menschen sind am Horn von Afrika in der Gewalt von Piraten. Handelsblatt Online begleitete die portugiesische Fregatte „Vasco da Gama“ Mitte April zehn Tage lang auf ihrer Jagd nach somalischen Piraten. Und mit einem Seeaufklärer der deutschen Marine  flog Reporter Florian Brückner über die Ostküste Somalias - über Camps und gekaperte Schiffe der Piraten.

Die Piraterie ist außer Kontrolle

Der Enterhaken wird zum Karriereinstrument: „Seeräuber zu sein gilt in Somalia fast schon als idiotensicherer Weg, schnell reich zu werden“, schreibt Jack Lang, Sondergesandter der Uno für die Bekämpfung der Piraterie, in einem Bericht an Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon. Rund 1500 professionelle Piraten verdienen mittlerweile allein in Somalia ihr Geld mit dem Kapern von Handelsschiffen. Mindestens 26 Frachter und 522 Menschen sind zurzeit in der Hand von Piraten. Die Lösegelder liegen im Schnitt bei mehr als fünf Millionen Dollar. Entsprechend hoch sind die Gehälter der Erben von Kapitän Blackbeard.

Nach einer aktuellen Studie der Beratungsgesellschaft Geopolicity kann ein Pirat 150-mal mehr verdienen als die meisten seiner somalischen Landsleute. Während das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Somalis bei etwa 500 Dollar liegt, verdienen Piraten bis zu 79 000 Dollar (56000 Euro) pro Jahr – netto. Das entspricht etwa dem Doppelten des durchschnittlichen Nettoeinkommens eines Beschäftigten in Deutschland.

Und die Piraterie lässt sich fast ohne Risiko betreiben: Zwar kreuzen 19 Kriegsschiffe im Golf von Aden. Doch bringen sie ein Piratenschiff auf, werden die Seeräuber meist wegen der schwierigen Rechtslage ohne Prozess wieder freigelassen.

Es ist also wenig verwunderlich, dass die Piratenindustrie im bitterarmen Somalia keine Nachwuchssorgen kennt. Geopolicity rechnet damit, dass jedes Jahr 200 bis 400 neue Seeräuber hinzukommen.

„Die Piraterie von heute ist zu einer lukrativen Industrie geworden"

Ganz am Anfang stand die Selbsthilfe. Um die großen Fischtrawler zu vertreiben, die ihnen die Lebensgrundlage entzogen, griffen somalische Fischer zu den Waffen und wurden so zu Piraten. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. „Die Piraterie von heute ist zu einer lukrativen Industrie geworden“, sagt Kerstin Petretto, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg im Forschungsverbund PiraT. Und der Seeräuber von heute arbeite nicht nur erfolgreich, sondern auch ausgesprochen effektiv.

Nach Berechnungen der amerikanischen Denkfabrik One Earth Future Foundation hat sich das im Schnitt erzielte Lösegeld für ein entführtes Schiff innerhalb von nur fünf Jahren versechsunddreißigfacht: von gut 150 000 Euro im Jahr 2005 auf fast 5,4 Millionen Dollar im vergangenen Jahr. Für einen Supertanker wie die Irene SL mit 1,8 Millionen Barrel Rohöl an Bord, wurde im April dieses Jahres ein Lösegeld von 13,5 Millionen Dollar fällig. Die Ladung entsprach laut Branchenverband Intertanko ungefähr 20 Prozent der täglichen Rohöl-Importe der Vereinigten Staaten.

26 Frachtschiffe und 522 Menschen sind derzeit laut dem International Maritime Bureau (IMB) der Internationalen Handelskammer (ICC) in der Gewalt von Piraten. Seeleute genauso wie private Schiffseigner. Die beiden Dänen Jan Quist und Birgit Marie Johansen und ihre drei Kinder etwa sind mit ihrer Jacht ING seit Ende Februar Geiseln somalischer Piraten. Die Familie soll nach unbestätigten Berichten auf dem gekaperten Frachter Dover gefangen gehalten werden. Das Problem: Die Lösegeldforderungen der Piraten und das Geld, das die Angehörigen der Dänen aufbringen können, soll weit auseinanderliegen.

Der Ankerpunkt der Dover ist westlichen Militärs bekannt – wie der all der anderen gekaperten Schiffe auch. Seeaufklärer überfliegen regelmäßig die Piratencamps und die Schiffe mit den Geiseln an Bord. Doch eine militärische Rettungsaktion gilt als zu gefährlich. Während manche Geiselhaft relativ schnell beendet ist, warten andere wie etwa die 20-köpfige Besatzung der Iceberg 1 seit mehr als einem Jahr auf die Befreiung. Und die Crew bezahlt dafür einen hohen Preis – zuweilen sogar mit dem eigenen Leben.

Unabhängig von diesen tragischen menschlichen Schicksalen verursachen die Piraten auch immer höhere wirtschaftliche Kosten. Diese schätzt die One Earth Future Foundation auf sieben bis 12 Milliarden Dollar – pro Jahr. Wobei das eigentliche Lösegeld in Höhe von bis zu 148 Millionen Dollar noch einer der kleineren Posten ist, so hart es den einzelnen Reeder auch treffen mag. Die Kosten für all die Marineeinheiten zum Schutz der Handelsschifffahrt in Höhe von zwei Milliarden Dollar, fallen weit höher aus. Auch die Umwege, die viele Reeder ihre Schiffe nun fahren lassen, um genügend Abstand von der Küste Somalias und den Piraten zu haben, schlagen mit bis zu drei Milliarden Dollar zu Buche.

Wenn dies denn überhaupt etwas nützt. Die Piraten folgen ihren potenziellen Opfern ins Arabische Meer und noch darüber hinaus – und weichen so auch der massiven Militärpräsenz im Golf von Aden aus, wo zeitweise bis zu 19 Kriegsschiffe der verschiedenen Anti-Piraterie-Missionen kreuzen. „Die Situation im indischen Ozean ist völlig außer Kontrolle geraten“, klagt Kapitän Pottengal Mukundan, Direktor des International Maritime Bureau. Während im Golf von Aden laut IMB in diesem Jahr bislang nur ein einziges Schiff gekapert worden ist, sind es vor der Küste Somalias gleich 15. „Die Piraten wagen sich mit ihren Mutterschiffen, die mehrere kleine Angriffsboote aufnehmen können, inzwischen sogar bis vor die Küste Indiens“, sagt Mukundan bitter.

Tankschiffe sind ein lohnendes Ziel

Der Verband der Tanker-Reeder, Intertanko, beobachtet dies mit großer Besorgnis. Jeden Tag werden laut der International Maritime Organization (IMO) der Vereinten Nationen 3,3 Millionen Barrel Öl durch die Straße von Bab al-Mandab transportiert, die das Rote Meer mit dem Golf von Aden verbindet. Das sind 30 Prozent des weltweiten Ölbedarfs. Aber auch all die Tanker, die ums Kap der Guten Hoffnung fahren müssen, weil sie für den Suez-Kanal zu groß sind, müssen durch das Arabische Meer fahren – also durch genau das Gebiet, in dem sich die Piraten immer mehr breit machen.

Und Tanker sind ein lohnenswertes Ziel: Voll beladen liegen die Schiffe tief im Wasser und fahren mit weit weniger Knoten durch die See als etwa Containerschiffe. Das haben die Piraten bemerkt. Laut der Bundespolizei See haben sich „Tankerschiffe als bevorzugtes Ziel von Piratenangriffen herauskristallisiert“. Fast ein Drittel aller Überfälle seien auf Tanker verübt worden. Und es lohnt sich für die Piraten: das Lösegeld für Tankschiffe ist hoch, die Verhandlungen laufen schnell. Die Ladung ist viel zu kostbar, um sie vor der Küste Somalias monatelang liegen zu lassen.

Joe Angelo, Managing Director von Intertanko, weiß das. Dass die Piraten ihre Aktivitäten ins Arabische Meer verlagerten haben, ist für ihn nicht weniger als ein „Game Changer“. Mit erheblichen Konsequenzen: „40 Prozent des weltweiten Rohöls wird über das Arabische Meer transportiert“, sagt Angelo. Bisher mache sich die Entführung eines Tankers noch nicht unmittelbar bemerkbar. Aber das könne sich schnell ändern, wenn die Piraten nicht bald gestoppt würden. „Viele Regierungen sind sich immer noch nicht über das volle Ausmaß und die Konsequenzen der Piraterie vor Somalia im Klaren“, sagt Angelo, der 250 Reeder mit einer Tanker-Flotte von gut 3050 Schiffen vertritt.

Der geografische Radius der Piraterie erstreckt sich inzwischen auf den gesamten Indischen Ozean. „Wir brauchen jetzt kleine bewaffnete Teams an Bord, um unsere Seeleute zu schützen. Wenn die Regierung das nicht leisten kann, brauchen wir einen klaren rechtlichen Rahmen für die privaten Schutzteams. Das jetzige Vakuum – kein Schutz und keine Richtlinien – ist den Seeleuten nicht länger zuzumuten“, klagt Ralf Nagel, Hauptgeschäftsführer des deutschen Reederverbands.

Falscher Alarmismus? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Jahr für Jahr steigt die Anzahl der Piratenübergriffe. Laut dem IMB sind im ersten Quartal dieses Jahres mit 142 Angriffen weltweit mehr als je zuvor registriert worden. Die Mehrzahl davon ereignete sich vor Somalia. Und häufig sind deutsche Reeder betroffen. Denn diese bedienen mit ihren Schiffen oft den starken Pendelverkehr zwischen Ostafrika und Indien, wie Expertin Petretto vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik sagt. Folge: Von den 445 Vorfällen mit Seeräubern im vergangenen Jahr betrafen 15,5 Prozent deutsche Reedereien – macht Platz eins.

Die Piraterie ist ein effizientes Oligopol

Angesichts all dieser Zahlen, die alle jährlich ansteigen, fällt IMB-Direktor Mukundans Ausblick düster aus: „Wir sind jetzt an einem kritischen Punkt angelangt. Wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht umgehend einschreitet, wird sich die Situation im nächsten Jahr ohne Zweifel dramatisch zuspitzen.“ Wenn es nicht ohnehin bereits zu spät ist.

Für Experten wie Kerstin Petretto war der kritische Punkt schon in dem Moment erreicht, als die Piraten die ersten Geiseln erschossen und die Lösegeldforderungen dramatisch anstiegen. Heute sei aus den Piratenanfängen von einst eine Industrie mit einem hohen Grad an Professionalisierung entstanden. Es herrscht eine Art Oligopol: Zwölf Anführer soll es geben, die die Rekrutierung und Ausbildung neuen Personals, die Beschaffung von Equipment, die Versorgung von mehr als 500 Geiseln zuzüglich all der Piraten und die Vorfinanzierung von Angriffen perfekt organisiert haben.

Piraterie ist ein Geschäft. Seeräuber sind Manager. Und weil das so ist, stellt die Beratungsgesellschaft Geopolicity eine einfache wie allgemein gültige Gleichung auf: Solange die Kosten und die Risiken den Nutzen und die erwartbaren Gewinne nicht übersteigen, wird die Piraterie für Somalis attraktiv bleiben. Zumal die Alternativen, das eigene Leben für weniger Geld bei einer der vielen Bürgerkriegsmilizen aufs Spiel zu setzen, keineswegs besser sind.

Von Piraten entführte Schiffe im Golf von Aden

Ein Blick aus dem Fenster des Seeaufklärers P-3C der deutschen Marine über der Ostküste Somalias. Sie sind aus einer Höhe von etwa 18.000 Fuß nur weiße Striche in blauer See. Aber diese weißen Striche sind Schiffe - 12 entführte Frachter und Tanker, die Mitte April samt Besatzung vor der Ostküste Somalias vor Anker lagen. Darunter sollen sich nach unbestätigten Informationen unter anderem die „Suez“, die „Eagle“, die „Yuan Xiang“, die „Hoang Son Sun“, die „Sinar Kudus“ oder etwa die „Rosalia D'Amato“ befunden haben. Wenn jedes Schiff im Schnitt eine Crew von 20 Matrosen und Offizieren an Bord hat, so wurden auf diesen Schiffen insgesamt gut 240 Menschen gefangen gehalten. Inzwischen sind einige von Ihnen wie etwa die „Eagle“ wieder freigelassen worden - doch die Piraten haben in der Zwischenzeit wieder neue Schiffe entführt. Das wohl tragischste Piratenopfer auf dieser Aufnahme ist die „Iceberg 1“. Das Schiff liegt bereits seit mehr als einem Jahr hier vor Anker. Einige Mitglieder der Crew sollen bereits verstorben sein - angeblich auch durch Verhungern. An der oberen Kante des Bildes findet sich noch ein weiteres, ein 13. Schiff: der amerikanische Zerstörer „USS Bainbridge“. Bei den kleinen weißen Punkte, die mit manchen Frachtern durch Leinen verbunden sind, handelt es sich um gekaperte Dhaus oder kleine Fischtrawler. Diese können von den Piraten als Mutterschiffe für Angriffe tief im Indischen Ozean eingesetzt werden.